Losstopschade

Der Straßen­atlas für die Daten­auto­bahn, karto­grafiert von Daniel Diekmeier. Archiv. Jetzt abonnieren →

Digital ist besser

Für die letzten paar Monate hatte ich mir von meinem Arbeitskollegen Max eine alte Analogkamera ausgeliehen, und zwar eine Yashica Electro 35. Das „Electro“ steht dafür, dass man lieber mit einer Gabel eine Steckdose erkunden würde als 36 Fotos mit dieser Kamera zu machen. (Kleiner Scherz!)

Die Benutzung der Kamera ist ganz einfach™: Man macht ein Foto, dann zieht man mit dem Daumen an einem soliden Hebel, um den Film zum nächsten Foto zu spulen.

Es war dennoch ein stetiger Kampf, den Film zu füllen. Wenn ich irgendwo hingehe, würde ich eigentlich immer lieber meine (digitale) Fujifilm X-T4 mitnehmen, um mehr Optionen zu haben. (Zum Beispiel die Option, meine Fotos zu sehen, oder für 0€ das gleiche Foto mehrfach zu probieren.)

Aber ich hatte die Electro ja nur zur Leihgabe und wollte Max’ Geduld nicht überstrapazieren, also zwang ich mich, immer mal wieder mit ihr das Haus zu verlassen und sie zu benutzen. Vor ein paar Tagen war es endlich so weit: Das Zählrad war bei 36 angekommen, ich machte noch ein letztes Foto als Zugabe und klappte dann die kleine Handkurbel aus, um den Film zurückzuspulen.

Hm! Geht erstaunlich leicht! Hmmmmm! Vielleicht sogar so leicht, dass man das Gefühl haben könnte, dass überhaupt nichts passiert. Vielleicht mache ich irgendwas falsch? Ich googelte nach der Bedienungsanleitung, die hilfreich sagte: „Einfach zurückspulen!“ Also googelte ich danach, dass sich Zurückspulen komisch anfühlt und fand mehrere Leute, die das gleiche Problem hatten, und bei denen die Antwort war, dass sie mit dem soliden Hebel den Film aus der Patrone gerissen haben, als sie über das 36te Foto hinausgeschossen (haha!) sind.

Cool! So eine Kacke!

Aber immerhin habe ich das Glück, in Berlin zu wohnen und lief also einfach zu einem Fotoladen, der noch selbst entwickelt, und fragte, ob sie den Film in ihrer Dunkelkammer aus der Kamera retten können. Der supernette Dude hinterm Tresen ging auch sofort los, kam nach zwei Minuten wieder und sagte „Plot Twist: Der Film ist komplett in der Patrone!“

Wir haben uns kurz beraten und die von mir akzeptierte Theorie ist, dass ich den Film nicht korrekt eingelegt habe, 36 Belichtungen auf die gleiche Stelle Film gemacht habe, dann die ~5cm zurückgespult habe und in seinen Laden gekommen bin. Die ganzen Monate Arbeit (naja, „Arbeit“) waren also umsonst!

Cool!!! So eine Kacke!!!

Am nächsten Tag habe ich Max die Kamera zurückgebracht und er hat mir gesagt, dass er mir leider nicht erklärt hatte, dasss man den Film etwas besonders einlegen muss. Bei meiner analogen Canon T-70 muss man den Film nur ungefähr auf das richtige Zahnrad legen und die Kamera erledigt den Rest, aber bei der Electro muss man die Kamera andersrum um den ganzen Mechanismus wickeln, weil sie andersrum spult. Hinterher ist man offenbar immer schlauer!

Immerhin hat Max jetzt seine Kamera wieder und ich nicht mehr den Druck, sie zu verwenden. Im Gegenteil, seitdem macht auch die X-T4 wieder mehr Spaß. Gestern habe ich ein altes Canon 50mm f1,8 Objektiv draufgeschraubt, das ich von meinen Großeltern geschenkt bekommen habe, habe die funky Filmsimulation „Pacific Blues“ von Fiji X Weekly eingestellt und bin in den Park gegangen.

Mit dem Objektiv muss man trotzdem von Hand fokussieren und gemeinsam mit der Kamera überlegen, welche Blende wohl angebracht ist. (Das ist natürlich Quatsch, in 95% aller Fälle richte ich mich nach dem bekannten Merksatz „Mit Blende 1,8 / hat noch niemand was falsch gemacht.“) Dadurch kann zumindest ich persönlich einen Großteil des Analog-Gefühls für mich simulieren.

Das alte Objektiv bringt eine schöne verträumte Unschärfe, die Filmsimulation gibt angenehme dunkle Grüntöne, sogar eine Biene ließ sich auf eine Begegnung ein, mehr kann ich mir von einem Nachmittagsspaziergang eigentlich nicht erhoffen. Es ist natürlich komplett seelenlos und geradezu verwerflich, aber vielleicht benutze ich dieses fake-analoge Setup jetzt öfter, ich finde die Ergebnisse wirklich nicht schlecht.

Nudeln mit Ei

Kein Gericht fühlt sich für mich so nostalgisch an wie Nudeln mit Ei. Nudeln mit Ei sind – anders als der Name vermuten lässt – nicht einfach beliebige Nudeln mit ein bisschen Ei.

Für echte™ Nudeln mit Ei braucht man ganz bestimmte Nudeln: Radiatore/Sputniks (am besten von 3 Glocken). Diese werden (selbstverständlich) gekocht und abgegossen, dann werden sie zusammen mit gewürfelter Fleischwurst und ein paar verrührten Eiern sowie Salz und Pfeffer zurück in den Topf geworfen, bevor das ganze bei niedriger Temperatur noch etwas auf dem Herd stehengelassen wird. Ab und zu Umrühren nicht vergessen. (Eine unzerstörbare Schicht Ei auf dem Boden des Topfes ist unvermeidbar, was will man machen.) Wenn man sich zu 95% sicher ist, dass das Ei fest ist, macht man eine Portion auf einen Teller, bedeckt sie mit Ketchup und Käse (Parmesan, Gouda, bei uns Zuhause gerne beides) und genießt ein Wohlfühlessen, das alle anderen Wohlfühlessen wie Zwieback mit Reißzweckenmarmelade aussehen lässt.

Soweit ich mich zurückerinnern kann, waren Nudeln mit Ei ein gerngesehener Gast im Hause Diekmeier. Als Kind war es immer eines meiner Lieblingsessen. Wenn es gekocht wurde, dann immer von meinem Vater. (Mein Vater ist Küchenchef! Das spielt keine Rolle, aber es ist etwas amüsant, dass mein Lieblingsessen von ihm ausgerechnet das einfachste Essen der Welt ist.) Er hatte das Gericht von seiner Oma geerbt, zusammen mit einem riesigen, alten, emaillierten Topf, dem offiziellen Nudeln mit Ei-Topf™.

Sidebar: Von meiner Urgroßmutter kam, wenn ich mich nicht täusche, nicht nur das Rezept für Nudeln mit Ei in unsere Familie, sondern auch, ironischerweise, das Konzept der „Eierkrankheit“. Die Eierkrankheit ist eine nicht näher definierte, symptomlose Krankheit, die man bekommen würde, wenn man zu viele Eier äße. „Jeder nur ein Frühstücksei, sonst bekommt ihr die Eierkrankheit!“ war ein regelmäßiger Satz meiner Eltern. Soweit ich weiß, hat es leider niemand von uns geschafft, jemals die Eierkrankheit zu bekommen. Tut mir Leid, ich mache die Anekdoten nicht, ich berichte nur.

Zur Sache: Als ich fünf Jahre alt war, hat mich meine Tante einmal vom Kindergarten abgeholt, mich nach Hause gebracht und mir Mittagessen gemacht. Sie hat mich gefragt, was ich essen möchte, und ich, dem die Macht direkt zu Kopf gestiegen war, sagte: „Nudeln mit Ei!“

Sie kochte daraufhin genau das, was ich auch kochen würde, wenn mir ein Kind zwei Zutaten an den Kopf werfen und dann Lego spielen gehen würde: Die beiden Zutaten. Es gab Spaghetti, angebraten mit Ei. (Keine Fleischwurst! Keine Radiatore! Ketchup und Käse? Fehlanzeige! Alles falsch, was man falschmachen kann!)

Ich weiß nicht mehr, wie ich reagiert habe, aber ich kann es erahnen: Viele (für meine Familienmitglieder amüsante) Anekdoten über mich als Kind bestehen daraus, dass ich höflich, aber klugscheißerig und ein bisschen trottelig war.

Es gab wohl einmal die Situation, dass meine Großeltern auf mich und meine beiden jüngeren Geschwister aufgepasst haben, während meine Eltern etwas anderes unternommen haben. Mein jüngstes Geschwister verbrachte den ganzen Nachmittag damit, zu weinen, während meine Großeltern alles versuchten, dem Lärm und den Tränen Einhalt zu gebieten. Abends kamen meine Eltern wieder nach Hause. Meine Großeltern überreichten das weinende Baby und berichteten von dem anstrengenden Nachmittag und dass sie einfach nichts finden konnten, das gegen das Weinen half. Diesen Moment habe ich der Legende zufolge genutzt, um zu sagen: „Hä? Ihr hättet doch einfach eine Flasche mit Milch geben müssen! Das klappt immer!“ Auf die Frage, warum ich das nicht ein paar Stunden früher gesagt hatte, antwortete ich, der Überlieferung nach, dass mich niemand gefragt hatte. Wie gesagt: Höflich, klugscheißerig, ein bisschen trottelig. Quasi wie heute!

Ich gehe davon aus, dass ich diese Feinfühligkeit auch benutzt habe, um meiner Tante den Irrtum zu erklären. Vermutlich sagte ich sowas wie „DAS sind doch keine Nudeln mit Ei!“ – also eine haarsträubend frustrierende Aussage von einem Fünfjährigen, für den man gerade wortwörtlich Nudeln mit Ei zubereitet hat.

Irgendwie müssen wir uns dann darauf geeinigt haben, dass es zwar nicht Nudeln mit Ei sind, aber, wenn man es großzügig betrachtet, vielleicht schon irgendwie sozusagen Nudeln als irgendwie auch Ei, denn ich weiß auf jeden Fall noch, dass ich es dann gegessen habe. Ansonsten wäre mir die Absurdität der Lage bestimmt nicht jahrzehntelang im Sinn geblieben.

Später kam noch eine Frau namens Natalie, die zu der Zeit meine Babysitterin war, um meine Tante abzulösen. Soweit ich weiß, kannten sich meine Tante und Natalie gar nicht, aber ich erinnere mich, wie meine Tante sie fragte, was zur Hölle echte Nudeln mit Ei sind. Meine Tante ging, Natalie und ich hatten vermutlich einen schönen Nachmittag, aber meine Erinnerung endet hier.

Manchmal denke ich daran, dass ich als Kind einfach alles mitgemacht habe, was um mich herum passiert ist. Als Kind hat man kein Konzept davon, was normal ist und was nicht, darum ist alles sowohl verblüffend als auch … akzeptabel.

Fünfundzwanzig Jahre später wurde mir nämlich bewusst: Das Seltsame an dieser Erinnerung ist nicht der missglückte Versuch, ein Gericht namens Nudeln mit Ei zu improvisieren, sondern … alles andere. Warum hatte mich die Frau des Bruders meiner Mutter vom Kindergarten abgeholt? Das ist davor kein einziges Mal passiert und auch nie mehr danach! Warum waren wir anschließend alleine bei mir Zuhause? Wo waren meine Eltern und mein Bruder, oder wenigstens mein Onkel selbst, als ich verwirrt Spaghetti in mich hineinschaufelte? Warum kam später noch Natalie und meine Tante fuhr weg?

Anfang letzten Jahres hatte mein Vater einen schweren Autounfall und war für viele Wochen im Krankenhaus. (Entwarnung: Es geht ihm inzwischen wieder gut!) Als es soweit passte, fuhr ich in den Schwarzwald zu meiner Mutter, einfach um da zu sein, aber auch um meinen Vater im Krankenhaus zu besuchen. (Unnötig zu erwähnen, aber Nudeln mit Ei gab es den Besuch über nicht.) Die meisten meiner Geschwister waren gleichzeitig da, und an einem der Abende saßen wir noch lange im Wohnzimmer zusammen und haben alte und neue Geschichten ausgetauscht.

Ich weiß nicht warum, aber die Sache mit meiner Tante und den missglückten Nudeln mit Ei fiel mir wieder ein, und ich erzählte die Geschichte und fragte meine Mutter: Was war passiert, dass mich ausgerechnet die Frau ihres Bruders vom Kindergarten abgeholt hatte.

Meine Mutter überlegte kurz, dann fiel es ihr ein: Es war die einzige Person, die mein Vater spontan vom Krankenhaustelefon aus erreichen konnte, während meine Mutter zur Entbindung im Kreißsaal lag.

Kinder, Erinnerungen und selektive Wahrnehmung sind so faszinierend. Während meine Eltern ihr drittes Kind ins Leben begrüßten, saß ich Zuhause und aß die schlechteste Portion Nudeln mit Ei meines Lebens. Aber so werde ich für immer wissen, wo ich am 4. Oktober 1998 war, und das ist auch nicht schlecht. Was für ein Glück, dass dieses Kind das Licht der Welt erblickt hat, denn sonst hätte ich nie zu meinen Großeltern sagen können: Mich hat ja niemand gefragt.

← Neuere Artikel Ältere Artikel →